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Die Rolle der Preußischen Staatsbibliothek
NS-Raubgut in der
Staatsbibliothek zu Berlin
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 setzte eine massenhafte Umverteilung von Büchern ein. In diesem Prozess nahm die Preußische Staatsbibliothek als größte wissenschaftliche Bibliothek im Deutschen Reich eine zentrale Funktion als Empfänger- und Verteilerinstitution von beschlagnahmter Literatur ein. Zugleich war dort mit der Reichstauschstelle eine weitere zentrale Verteilerinstitution angesiedelt. Auf der Grundlage von zwei ministeriellen Erlassen aus dem Jahr 1934, die die Verwertung von eingezogenem kommunistischem und ‚volksfeindlichem‛ Vermögen regelten, sowie zwei weiteren Erlassen von 1938 und 1939, die sich mit der Beschlagnahme von jüdischer und hebräischer Literatur befassten, wurde die Preußische Staatsbibliothek als Empfängerin von in Preußen beschlagnahmten Büchern bestimmt. Die zuständigen Behörden meldeten die Titel solcher Werke an die Preußische Staatsbibliothek, die übernahm und in den eigenen Bestand einarbeitete, was noch nicht vorhanden war und ihrem Erwerbungsprofil entsprach. Der überwiegende Teil wurde an andere wissenschaftliche Bibliotheken weiterverteilt.
Die Einlieferungen der Ortspolizeibehörden (darunter Beschlagnahmungen des Eigentums von SPD-Ortsvereinen, Verlagen etc.) umfassten oft nur wenige Titel. Gerade für Bücher gilt aber, dass planvoll aufgebaute Sammlungen in ihrer Gesamtheit von höherem Wert sind, als die Summe der einzelnen Exemplare. Die Preußische Staatsbibliothek bemühte sich daher auch um die Übernahme von geschlossenen Sammlungen besonderer Qualität. Dies gelang jedoch nur selten. Die Konkurrenz potentieller Empfängerinstitutionen – neben der Preußischen Staatsbibliothek vor allem neu gegründete NS-Institutionen wie die Bibliothek des (Reichs-)Sicherheitshauptamts oder der Hohen Schule – führten häufig zu einer Zerschlagung und Vernichtung historisch gewachsener Sammlungen.
Reichstauschstelle
Die 1926 vom Bibliotheksausschuss der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft eingerichtete Reichstauschstelle nahm anfangs Aufgaben der Literaturverteilung wahr. Sie übernahm zunächst aufgelöste Behörden- und Firmenbibliotheken, Ende der 1930er Jahre auch geraubte Literatur, um sie interessierten Bibliotheken bereitzustellen. In den 1940er Jahren verstärkte sich die Eigenständigkeit der Reichstauschstelle mit der Literaturbeschaffung im Zuge des Wiederaufbauprogramms für die durch Kriegseinwirkungen zerstörten deutschen Bibliotheken.
(Reichs-)Sicherheitshauptamt
Das Reichssicherheitshauptamt war eine zentrale Behörde der SS mit nachrichtendienstlichen und sicherheitspolitischen Aufgaben. Es bestand unter diesem Namen ab 1939 und ging aus dem Sicherheitsdienst der SS, später Sicherheitshauptamt, hervor. Für die ‚Gegnerforschung‛ und Schulung von Polizei und SS baute der Sicherheitsdienst eine wissenschaftliche Zentralbibliothek in Berlin auf, die auf beschlagnahmtem, politisch unerwünschtem Schriftgut basierte.
Die Staatsbibliothek zu Berlin als Nachfolgeinstitution der Preußischen Staatsbibliothek setzt sich heute intensiv für die Aufarbeitung der Problematik von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut ein. NS-Raubgut wird ermittelt, dokumentiert und restituiert. Dabei werden nicht nur Verteilungswege von NS-Raubgut erforscht, sondern auch grundlegende institutionelle und administrative Prozesse. Im Zuge der NS-Raubgutforschung arbeitet die Staatsbibliothek außerdem an der Weiterentwicklung von Modellen zur gemeinsamen Provenienzerschließung von Bibliotheksbeständen mit.
Aktuelles
Aktuelle Informationen rund um die Provenienzforschung in der Staatsbibliothek zu Berlin finden Sie im Newsroom.
Beschlagnahme, Raub und Umverteilung von NS-Raubgut
Verfolgt und beraubt
Zu den vom Raub betroffenen Personen und Institutionen gehörten bereits seit Beginn der NS-Herrschaft die politischen Gegner wie sozialdemokratische und kommunistische Parteien beziehungsweise Vereine und Verbände der Arbeiterbewegung. Außerdem zählten als ‚volksfeindlich‛ erklärte Institutionen, Freimaurerlogen und andere weltanschauliche Gegner zu den Verfolgten. In verheerendem Ausmaß war besonders die jüdische Bevölkerung betroffen. Antisemitische Ausschreitungen, Boykott jüdischer Einrichtungen, die Nürnberger Rassengesetze etc. führten zu Ausgrenzung, Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Reich und fanden ihren vorläufigen Höhepunkt in den Novemberpogromen von 1938. Es folgten die Deportation und Ermordung von Millionen von Menschen in Vernichtungslagern.
Zu den Maßnahmen der Verfolgung und Unterdrückung gehörte das Einziehen von Vermögenswerten wie Büchersammlungen. Insbesondere die Verdrängung der jüdischen Bevölkerung wurde systematisch durch die staatlichen Behörden begünstigt und der Raub von jüdischem Eigentum legalisiert.
‚Schädliches und unerwünschtes Schrifttum‛
Zensur und Vernichtung der Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaft
Ein Opfer der ‚Säuberungsaktionen‛ war die Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaft, das 1919 von dem Arzt und Sexualwissenschaftler Dr. Magnus Hirschfeld (1868–1935) in Berlin gegründet worden war. Für die wissenschaftliche Forschung wurde am Institut eine sexualwissenschaftliche Fachbibliothek aufgebaut, die am 6. Mai 1933 von Studenten geplündert und verwüstet wurde. Am Nachmittag setzte ein SA-Trupp die Plünderung fort. Ein Teil der Bücher wurde am 10. Mai auf dem Opernplatz in Berlin verbrannt, der Rest hingegen gesichtet und unter dem Vorwand der Steuerschuld dem Berliner Finanzamt übergeben. Die Bücher wurden zwangsversteigert oder verkauft.
Im Jahr 1935 gelangten einige Bände in die Preußische Staatsbibliothek und wurden als verbotene Literatur eingestuft. Die Bücher mussten sekretiert, das heißt separat aufgestellt und unter Verschluss gehalten werden. Nur eine beschränkte, ‚vertrauenswürdige‛ Leserschaft durfte diese benutzen. Nicht alle dieser Bände sind heute noch in der Staatsbibliothek vorhanden, da ein Teil während des Zweiten Weltkriegs aus dem bombardierten Berlin ausgelagert wurde und nach Kriegsende nicht zurückkehrte.
Für die ehemalige Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaft ist kein Katalog überliefert, was die Rekonstruktion heute immens erschwert. Der Verbleib der Bibliothek ist bislang nicht vollständig aufgeklärt, und immer noch tauchen einzelne Bücher im Antiquariatshandel auf.
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Die Bücher erhielten eine „Secr.“-Zugangsnummer, die oft auch in den Büchern selbst notiert wurde und damit im Zuge der NS-Raubgutforschung heute zur Identifikation des Exemplars herangezogen werden kann.
In der Preußischen Staatsbibliothek wurde bescheinigt, alle verzeichneten verbotenen Werke erhalten zu haben.
Die Einziehung von ‚staatsfeindlichem‛ Vermögen
Die Zerschlagung der Bibliothek des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main
Das wissenschaftliche Institut für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt am Main widmete sich seit seinen Anfängen 1923 der Theorie und Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung. Dazu zählte auch die wissenschaftliche Erforschung des Marxismus. Unter der Leitung von Max Horkheimer entwickelte sich das Institut 1930 schließlich zum intellektuellen Mittelpunkt und wurde als sogenannte Frankfurter Schule berühmt.
Die Nähe der thematischen Schwerpunkte zum politischen Geschehen führte dazu, dass das Institut unter dem NS-Regime als ‚staatsfeindlich‛ eingestuft und am 13. März 1933 aufgelöst wurde. Die wertvolle Institutsbibliothek mit seltenen Materialien wie revolutionären Flugschriften wurde beschlagnahmt.
In der Preußischen Staatsbibliothek ging 1937 mit der ‚staatsfeindlichen‛ Literatur ein Großteil der Bibliothek ein, während das als unbedenklich eingestufte Material bei den Frankfurter Universitätsinstituten blieb. An das (Reichs-)Sicherheitshauptamt gab die Preußische Staatsbibliothek doppelt vorhandene und als nicht relevant eingestufte Bände für deren ‚Gegnerforschung‛ ab. Mit Auflösung der NS-Institutionen nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden diese Bücher an andere wissenschaftliche Bibliotheken weiterverteilt. Einige Einzelexemplare gelangten später in den Verteilungskreislauf der Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände. So kann es sich auch bei nach 1945 erworbenen Büchern um NS-Raubgut handeln.
ZwA-Nummer
Die ZwA-Nummer wurde häufig auch in den Büchern notiert.
Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände
Um dem Büchermangel in wissenschaftlichen Bibliotheken nach Kriegsende entgegenzuwirken, organisierte die zentrale Tauschstelle für Bibliotheken in der DDR von 1953 bis 1995 die Übergabe und Abgabe von Dubletten und „herrenlosen“ Büchern. Darunter befanden sich auch unter dem NS-Regime enteignete und beschlagnahmte Bände. Angesiedelt war die Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände (ZwA) ab 1959 bei der Deutschen Staatsbibliothek, einer Vorgängerinstitution der Staatsbibliothek zu Berlin.
Aus der Preußischen Staatsbibliothek wurde ein Teil der Bücher zum Schutz vor Luftangriffen während des Zweiten Weltkriegs an Standorte im Reichsgebiet ausgelagert und kehrte nach 1945 nicht nach Berlin zurück. Für die in Berlin zurückgebliebenen Bücher griffen nach dem Zweiten Weltkrieg die neuen Verteilungsmechanismen unter dem SED-Regime in der DDR. Große Mengen an Sozialistica – auch NS-Raubgut – wurde für den Aufbau neuer Fachbibliotheken, wie zum Beispiel beim 1949 gegründeten Institut für Marxismus-Leninismus, zusammengetragen.
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Restitution
Durch die Aufsplitterung der ehemaligen Bibliothek des Instituts für Sozialforschung kam es seit 1951 mit der Wiedergründung des Instituts in Frankfurt am Main zu Restitutionen von verschiedenen Seiten. Im Jahr 2018 restituierte die Staatsbibliothek zu Berlin 536 Bände an das Institut.
Eine wichtige Spur bei der Identifizierung von Exemplaren aus dem Institut für Sozialforschung ist die institutseigene Zugangsnummer, die mit Bleistift auf dem Titelblatt eingetragen wurde.
Die ZwA-Nummer wurde häufig in den Büchern notiert und kann heute der Identifizierung von Exemplaren dienen, die über die ZwA verteilt wurden. Die Nummer gibt Auskunft über den Weg des Buches nach 1945, aber noch keinen Hinweis darauf, ob es sich bei dem Buch um NS-Raubgut handelt.
Ein weiterer wichtiger Hinweis bei der Identifizierung von Exemplaren aus dem Institut für Sozialforschung ist der Stempel des Instituts auf der Rückseite des Titelblattes.
Freimaurerlogen: Zur Auflösung gezwungen
Die Bibliothek der Johannis-Loge Teutonia zur Weisheit in Potsdam
Die deutschen Freimaurerlogen waren Vereinigungen mit einer langen Tradition. So bestand auch die Johannis-Loge Teutonia zur Weisheit seit 1809 in Potsdam und besaß eine umfangreiche und gut organisierte Bibliothek.
Die Loge versuchte nach Beginn der Verfolgung im Jahr 1933 der Zerstörung und Aufsplitterung der eigenen Bibliothek zuvorzukommen und bot diese 1934 der Preußischen Staatsbibliothek an. Damit verbunden war die Hoffnung, die Staatsbibliothek würde die Bibliothek in ihrer Gesamtheit erhalten. Doch die Staatsbibliothek erklärte sich nur zur Übernahme des freimaurerischen Teils bereit und auch dieser blieb nicht geschlossen in der Staatsbibliothek erhalten, da doppelt vorhandene Bücher aussortiert und an die Nationalbibliothek Wien weitergegeben wurden.
Die Loge Teutonia bildete damit eine seltene Ausnahme, da der Verbleib eines wesentlichen Sammlungsteils durch frühzeitige Selbstauflösung noch selbst geregelt werden konnte. Dennoch ließ sich auch durch diese notgedrungene Veräußerung der Bücher eine Aufsplitterung der Sammlung nicht völlig verhindern.
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Restitution
Da sich die Loge Teutonia in der DDR nicht neugründen durfte, erfolgte erst im Jahr 1991 die Wiedereröffnung in Potsdam. 1965 wurden deshalb 639 Bände von der Staatsbibliothek im Westteil Berlins an die Große National-Mutterloge übergeben, die als übergeordnete Organisation auch die nicht wiedergegründeten Logen vertrat. Im Jahr 2016 wurden nach intensiven Recherchen im Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin weitere 384 Bücher identifiziert und diesmal direkt an die Loge Teutonia übergeben.
D = Dona (Geschenke) mit Zugangsjahr ist gleichzeitig titelgebend für das Zugangsbuch
laufende Zugangsnummer
Tag des Zugangs im Jahr 1936 (da zum Betriebsjahr 1935 gehörend)
Bibliografische Angaben zum erworbenen Werk
Angabe des Lieferanten
Konkurrenz um beschlagnahmte jüdische Bibliotheken
Die Bibliothek des Jüdisch-Theologischen Seminars Fraenckel’scher Stiftung in Breslau
Zwei Erlasse des Reichsministers der Finanzen vom 10. September 1938 und vom 12. Juni 1939 bestimmten die Preußische Staatsbibliothek zwar als zentrale Sammelstelle für beschlagnahmte jüdische und hebräische Literatur, kamen in der Praxis jedoch kaum zum Tragen. Vor allem ab 1940 ergab sich eine direkte Konkurrenz zum (Reichs-)Sicherheitshauptamt, das vom Reichsministerium der Finanzen als erste Anlaufstelle eingesetzt wurde und die Weitergabe von beschlagnahmten Büchern organisierte.
Gerade die Beschlagnahme von jüdischen Bibliotheken im deutschen Reichsgebiet, darunter der des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau (heute Wrocław, Polen), ging vom Sicherheitsdienst der SS aus. In den Novemberpogromen von 1938 waren Seminar und Bibliothek von Verwüstung und Zerstörung betroffen und was nicht vernichtet wurde, beschlagnahmte der Sicherheitsdienst der SS für die eigene Zentralbibliothek und ließ es nach Berlin abtransportieren.
Zentralbibliothek des (Reichs-)Sicherheitshauptamtes
Das (Reichs-)Sicherheitshauptamt als Behörde der SS baute für die nachrichtendienstlichen Aufgaben eine eigene Bibliothek auf, die zu einem großen Umschlagplatz für beschlagnahmtes jüdisches, freimaurerisches, sozialistisch/marxistisches und sonstiges missliebiges Schrifttum wurde. Bücher der Zentralbibliothek wurden zum Teil im Krieg ausgelagert, vernichtet und der in Berlin verbliebene Rest nach 1945 durch die Bergungsstelle für wissenschaftliche Bibliotheken gesichtet, zurückgegeben oder an Berliner Bibliotheken weiterverteilt.
Die wertvolle Bibliothek der Breslauer Lehr- und Forschungsstätte für die Wissenschaft des Judentums wurde nach 1945 weiter auseinandergerissen. Durch die Zerstörung des Seminars und des jüdischen Lebens insgesamt blieb die Rechtsnachfolge für die Bibliothek unklar. Aus der aufgelösten Bibliothek des (Reichs-)Sicherheitshauptamtes wurden daher nach 1945 Teilbestände an Berliner Bibliotheken verteilt, über die Sammelstelle der Alliierten in der amerikanischen Besatzungszone und die Treuhandgesellschaft Jewish Cultural Reconstruction Inc. an jüdische Gemeinden in der Schweiz, in Israel und in Mexiko abgegeben, von polnischen Behörden übernommen oder als Beutegut nach Moskau abtransportiert. Einzelne Exemplare aus dem ehemaligen Jüdisch-Theologischen Seminar wurden über den Antiquariatsmarkt weiterverkauft. So gelangte noch in den 1990er Jahren NS-Raubgut in den Bestand der heutigen Staatsbibliothek zu Berlin.
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Verfolgt, enteignet, emigriert oder deportiert – Schicksale von Privatpersonen und ihrem Buchbesitz
Die Privatbibliothek von Artur Rubinstein
Der weltberühmte Pianist Artur Rubinstein (1887–1982) besaß eine wertvolle Privatbibliothek mit zahlreichen Musikhandschriften in seiner Wohnung in Paris. Im Jahr 1939 emigrierte er mit seiner Familie in die USA. Seine Bibliothek blieb in Paris zurück und wurde nach der deutschen Teilbesetzung Frankreichs 1940 durch den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg – einer der Hauptakteure großangelegter Raubzüge in den besetzen Gebieten – beschlagnahmt und nach Berlin ins (Reichs-)Sicherheitshauptamt gebracht.
Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg
Während des Zweiten Weltkriegs war der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg für den großangelegten Raub von Kulturgütern in den von deutschen Truppen besetzen Gebieten zuständig. Ähnlich dem Sicherheitshauptamt wurde das Ziel verfolgt, mit beschlagnahmter Literatur Bibliotheken zur sogenannte Gegnerforschung an der Hohen Schule (NS-Eliteschule) und am Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt am Main aufzubauen.
Die Zersplitterung der Bibliothek Rubinsteins setzte sich nach 1945 fort. Ein Teil der Bücher aus der Bibliothek des (Reichs-)Sicherheitshauptamtes wurde durch die Rote Armee nach Moskau gebracht. Zurückgebliebenes und als ‚herrenlos‛ erklärtes Bibliotheksgut gelangte in die Deutsche Staatsbibliothek, wurde an Berliner Bibliotheken zum Wiederaufbau ihrer Bestände nach dem Zweiten Weltkrieg verteilt oder geriet schließlich in den Verteilungskreislauf der Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände. Bis heute konnte die Aufsplitterung der Bibliothek nur annähernd aufgeklärt werden.
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Restitution
Im Jahr 2006 erfolgte seitens der Staatsbibliothek zu Berlin die Übergabe von 71 Musikhandschriften an die Erben von Artur Rubinstein. Weitere fünf Bücher und zwei Musikhandschriften wurden 2019/20 übergeben.
In Rubinsteins Büchern wurde häufig ein Exlibris angebracht, aber selten in den Musikhandschriften. Hinweise für eine Identifizierung können aber beispielsweise Widmungen an Artur Rubinstein geben.
Aufarbeitung von NS-Raubgut-Zusammenhängen
Provenienzforschung
Die Erforschung der Provenienz (lat. provenire = herkommen) von Büchersammlungen hat eine lange Tradition in der Sammlungsforschung sowie bei der Handschriften- und Inkunabelbeschreibung. Seit den 1980er Jahren intensivierte sich die Auseinandersetzung mit der Geschichte und der Rolle von Bibliotheken im Nationalsozialismus. Daneben tritt seit der Washingtoner Erklärung verstärkt die wissenschaftliche Erforschung der Besitz- und Erwerbungsgeschichte von potentiellem Raubgut in Bibliotheken. Die Provenienzforschung zu NS-Raubgut ist damit eine noch relativ junge wissenschaftliche Disziplin. Neben der wissenschaftlichen Forschung ist auch die Aufklärung von Unrecht und die Feststellung von Eigentumsverhältnissen Teil der Forschungsarbeit.
Als Nachfolgeinstitution der Preußischen Staatsbibliothek arbeitet die Staatsbibliothek zu Berlin seit vielen Jahren intensiv an der Aufarbeitung der Problematik von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut in ihren Sammlungen, wie einige Meilensteine ihrer Aktivitäten zeigen.
Aktivitäten in der Staatsbibliothek zu Berlin im Kontext der Provenienzforschung in Bibliotheken
Einblicke in die Arbeit der Staatsbibliothek zu Berlin
Provenienzerschließung
Der gesamte historische Druckschriftenbestand der Staatsbibliothek zu Berlin mit Exemplaren, die vor 1945 erschienen sind, umfasst drei Millionen Bände. Hinzu kommen Sondermaterialien wie Handschriften, Musikalien, Karten und Nachlässe. Für diese drei Millionen Bände müssen in den Erwerbungsunterlagen der Staatsbibliothek aufwendig diejenigen Exemplare recherchiert werden, die zwischen 1933 und 1945, aber auch später erworben wurden. Verdachtsfälle werden anschließend geprüft. Hinweise auf solche Bestände finden sich einerseits in überlieferten Erwerbungsakten und Zugangsbüchern der Bibliothek, andererseits in den Büchern selbst.
Die Suche nach den geraubten Büchern gestaltet sich oft schwierig. Neben der Zerschlagung der Bibliotheken tat auch die bibliothekarische Praxis der Dublettenaussonderung (Dublette = doppelt vorhandenes Buch) ihr Übriges. Wertvolle Kulturgüter wurden außerdem während des Zweiten Weltkriegs aus dem bombardierten Berlin ausgelagert. Nach Kriegsende kam es an den Auslagerungsorten nicht selten zu Plünderungen und Verlusten, einige Depots lagen nach 1945 auf polnischem Staatsgebiet. Auch nach 1945 setzte sich die Zersplitterung von Bibliotheken fort, da Massen an Büchern unklarer Herkunft weiterverteilt wurden. Trotz einst eventuell vollständiger Übergaben an die Preußische Staatsbibliothek werden dadurch heute oft nur noch Teile der ursprünglich übernommenen Sammlungen und Bücher aufgefunden.
Die Rechercheergebnisse aus der Arbeit in der Staatsbibliothek zu Berlin zu geklärten oder noch ungeklärten Fällen können im Online-Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin eingesehen werden. Auch die Besitz- und Erwerbungsgeschichte von restituierten Exemplaren ist dort dokumentiert.
Versuchen Sie es selbst!
Können Sie diese Provenienzmerkmale entschlüsseln?
Hinweise auf Vorbesitzerinnen und Vorbesitzer geben Spuren in Büchern, wie Stempel, Exlibris oder handschriftliche Widmungen. Das Entschlüsseln dieser Merkmale kann jedoch eine große Herausforderung sein. Nicht immer ist eine Identifizierung möglich.
Auflösung
Sozial.-Demokr. Wahlverein
Für Lägerdorf
Durch Kampf zum Sieg!
Weiterführende Informationen
Kleinere Gebrauchsbibliotheken von Partei-Ortsvereinen wie auch Arbeitervereinen wurden unter dem NS-Regime in großer Zahl beschlagnahmt.
Auflösung
Aus meiner Bücherei
Hedwig Hesse
Behrmann
Mai 1918
Nr.
Weiterführende Informationen
Hedwig Hesse war eine deutsche Jüdin und wurde 1942 nach Riga deportiert und dort ermordet. Ihre Bücher wurden beschlagnahmt.
Auflösung
Gr. L. Loge D. Fr. M. V. Deutschl.
[Grosse Landesloge der Freimaurer von Deutschland]
Berlin
Bibliothek
Weiterführende Informationen
Der geschwärzte Stempel lässt vermuten, dass dieser Band einer Freimaurerloge vom (Reichs-)Sicherheitshauptamt übernommen wurde.
Auflösung
À Monsieur Henri Torrès
ce „reportage“ dans le pays
où il n’y a pas de
vrais orateurs, en
souvenir très cordial
Pierre Daye
Paris, octobre 1931
Weiterführende Informationen
Der französische Anwalt Henry Torrès war jüdischer Herkunft und emigrierte 1940 in die USA. Bände aus seiner Bibliothek gelangten vermutlich auf unterschiedlichen Verteilungswegen in die Preußische Staatsbibliothek.
Auflösung
Israelitischer Knaben-Verein Stettin
Weiterführende Informationen
Als Besitz einer jüdischen Vereinigung zählt der Band zu den NS-Raubgut verdächtigen Exemplaren. Weitere Hinweise auf die Bibliothek gibt es bisher nicht.
Die Übergabe von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut an Berechtigte
Restitution
Die ersten Restitutionen von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut erfolgten bereits nach Kriegsende 1945. An zahlreichen Verlagerungsorten im Reichsgebiet fanden sich Massen an Raubgut. Auch NS-Hauptakteure wie das (Reichs-)Sicherheitshauptamt oder der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, die nun aufgelöst wurden, hinterließen große Depots an beschlagnahmtem Gut. Die Alliierten versuchten deshalb Rückgaben an Berechtigte einzuleiten. Als zentrale Sammelstelle diente unter anderem das Offenbach Archival Depot für Bücher und Dokumente in der amerikanischen Besatzungszone. Aus dem Offenbacher Depot wurden in der Zeit von 1945 bis 1949 über drei Millionen Bücher und Ritualgegenstände restituiert. In Berlin übernahm 1945/46 die Bergungsstelle für wissenschaftliche Bibliotheken eine ähnliche Aufgabe, sie sichtete zurückgelassene Bestände und organisierte Rückgaben.
Dabei konnten jedoch nicht alle Bücher und Dokumente identifiziert, zugeordnet und zurückgegeben werden. Die Suche nach jüdischen Eigentümerinnen und Eigentümern gestaltete sich besonders schwierig, da jüdisches Leben unter dem NS-Regime umfassend zerstört wurde. Hinzu kommen Bücher, die keine Hinweise auf Vorbesitzerinnen oder Vorbesitzer enthielten und als ‚herrenlos‛ betrachtet und verteilt wurden. Rückführungen von Ost nach West und umgekehrt waren während des beginnenden Kalten Kriegs erschwert. Deshalb findet sich noch heute NS-Raubgut in den Beständen von Bibliotheken.
Die Möglichkeit, die rechtmäßigen Eigentümer und Eigentümerinnen 70 Jahre nach Kriegsende zu finden, schwinden mehr und mehr. Meist können nur Kontakte zu Erben und Erbinnen hergestellt werden. In manchen Fällen sind keine Berechtigten mehr aufzufinden. Noch größer ist die Anzahl der Bücher, bei denen sich keine Spuren auf Vorbesitzerinnen und Vorbesitzer finden lassen und für die somit lediglich festgestellt werden kann, dass der Verdacht auf NS-Raubgut nicht ausgeräumt werden konnte. Diese Bücher werden im Online-Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin kenntlich gemacht.
Restitutionen der Staatsbibliothek zu Berlin
In Zahlen
Die enorme Menge von allein drei Millionen historischen Druckschriften, die vor 1945 erschienen sind, zeigt, dass die Staatsbibliothek noch auf lange Zeit mit der Aufarbeitung der Problematik von NS-Raubgut in ihren Sammlungen beschäftigt sein wird. Erschwert werden die Aufgaben durch beträchtliche Kriegsverluste, die sich heute nicht mehr im Bestand der Staatsbibliothek befinden, und die Aufteilung der Bestände in eine Ost- und Westinstitution von 1946 bis 1990. Das Fortschreiten der Bestandsprüfungen in der Staatsbibliothek lässt sich anhand der obigen Zahlen verfolgen. Wie viele Bände sich bei der Prüfung als NS-Raubgut herausstellten beziehungsweise als Verdachtsfälle identifiziert oder bereits restituiert werden konnten, wird kontinuierlich im Online-Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin aktualisiert und dokumentiert.