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Wissenschaftler und Märchensammler
Jacob und Wilhelm Grimm in Berlin
Berlin als Zentrum der Wissenschaft
Die auf Initiative Wilhelm von Humboldts 1810 gegründete Berliner Universität entwickelte sich bald zur bedeutendsten ihrer Art. In Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften und der Königlichen Bibliothek entstand in Berlin ein einmaliges mitteleuropäisches Wissenschaftszentrum, das auf viele bedeutende Gelehrte und Forschende aus den verschiedensten Disziplinen anziehend wirkte. Ihre bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen spiegeln sich heute in den Sammlungen der Staatsbibliothek.
Jacob und Wilhelm Grimm wurden 1837 wegen ihres Protests gegen den Verfassungsbruch des Königs von Hannover (Göttinger Sieben) als Professoren entlassen. Durch Vermittlung von Bettina von Arnim, Friedrich Karl von Savigny und anderen Persönlichkeiten wurden die Brüder 1840 nach Berlin an die Akademie der Wissenschaften berufen. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1859 beziehungsweise 1863 lebten und arbeiteten sie in dieser Stadt. In ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit führten sie ihre breit gefächerten Forschungen weiter. Ein Schwerpunkt lag dabei auf sprachwissenschaftlichen Studien. Vor allem die Arbeit an ihrem Deutschen Wörterbuch, dem größten und umfassendsten Wörterbuch zur deutschen Sprache, beschäftigte sie bis zum Lebensende.
Der Grimm-Nachlass in der Staatsbibliothek
Der Nachlass von Jacob und Wilhelm Grimm gehört sicherlich zu den größten und bedeutendsten geschlossen überlieferten Gelehrtennachlässen aus dem 19. Jahrhundert. Die Nachkommen der Brüder schenkten ihn 1899 der Königlichen Bibliothek. Der Nachlass besteht aus circa 1.900 Konvoluten und bibliografischen Einheiten mit einem Umfang von 40 laufenden Metern. Er enthält wichtige Handexemplare der eigenen Veröffentlichungen, Werkmanuskripte und Arbeitsmaterialien wie Notizen, Exzerpte, Materialsammlungen zu ihren verschiedenen Forschungsgebieten.
Dazu kommen die umfangreiche Korrespondenz von über 10.000 Briefen und auch diverse Lebensdokumente etwa zu ihrer politischen Tätigkeit (Göttinger Sieben, Nationalversammlung Frankfurt/Main 1848) und ihrer beruflichen Laufbahn ebenso wie persönliche Dokumente (Kalender, Tagebücher, Porträts, Stammbücher). Die große Zahl von Ehrenurkunden, Diplomen und Zeugnissen von Ehrenmitgliedschaften zeigt die weltweite Anerkennung des Lebenswerks der beiden berühmten Gelehrten.
Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm
Nach dem Erfolg einer 1823 in London publizierten Teilausgabe in englischer Übersetzung mit Illustrationen von George Cruikshank (1792–1878) schlug Wilhelm Grimm vor, nach diesem Vorbild auch in Deutschland eine Auswahl im Taschenbuchformat zu veröffentlichen. Diese ‚Kleine Ausgabe‘ trug maßgeblich zur Popularität der Märchensammlung bei. Während die ‚Große Ausgabe‘ ab 1837 in Göttingen verlegt wurde, erschien die Teilausgabe weiterhin in Berlin, zunächst bis zur fünften Auflage von 1841 bei Reimer, später im Verlag von Wilhelm Besser (1809–1848) und dessen Geschäftsnachfolger Franz Duncker (1822–1888).
Jacob und Wilhelm Grimm hatten 1806 mit dem Sammeln von Volksmärchen begonnen. Während eines Besuchs in Kassel im Frühjahr 1812 regte Achim von Arnim die Publikation der Märchen an und wenige Wochen später bat ihn Jacob Grimm, einen geeigneten Verleger zu suchen. Im Juni 1812 schickte von Arnim aus Berlin die Nachricht, dass Georg Andreas Reimer (1776–1842) die Märchen in seiner Realschulbuchhandlung veröffentlichen lassen wolle. Nach weiteren sechs Monaten, am 20. Dezember 1812, erschien der erste Band der Kinder- und Hausmärchen. Der zweite Band der Erstausgabe wurde 1815 veröffentlicht, eine zweite Ausgabe erschien 1819 im gleichen Verlag.
Die Sammlung der Kinder- und Hausmärchen
in der Staatsbibliothek zu Berlin
In der Kinder- und Jugendbuchabteilung bilden die Kinder- und Hausmärchen einen eigenen Sammelschwerpunkt, der einen Überblick von den frühesten Auflagen bis zur Gegenwart ermöglicht und illustrierte Ausgaben aus aller Welt, wichtige Übersetzungen und Neuinterpretationen einschließt.
Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an wurden die Grimm’schen Märchen zunehmend populärer, sie wurden gewissermaßen als ‚nationales Kulturerbe‘ betrachtet. Vor allem mit dem Erlöschen der Urheberschutzfrist im Jahr 1893 stieg die Zahl der Veröffentlichungen sprunghaft an, eine Entwicklung, die in der Sammlung anhand zahlreicher Beispiele belegt werden kann.
Zu den Raritäten des Bestands gehören frühe Einzelausgaben der Märchen ebenso wie historische Bilderbogen und Originalillustrationen. Mit den zahlreichen Primärschriften und einem umfangreichen Handbestand stellt die Sammlung der Kinder- und Hausmärchen eine wichtige Ergänzung zum Nachlass der Brüder Grimm in der Handschriftenabteilung dar.