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Was vom künstlerischen Leben nachklingt:

Musikalische Nachlässe in der Staatsbibliothek

Ob nun Tagebuch, Foto oder Brief, Rechnung, sorgfältige Reinschrift oder flüchtig dahingeschriebene Skizze – immer finden sich in den Nachlässen bisher unbekannte Aspekte zur Musikgeschichte, wird Vergangenes lebendig. Interessant sind auch die Wechselbeziehungen und Querverbindungen zwischen einzelnen Nachlässen und Persönlichkeiten.


Die Sammlungen großer Komponisten wie beispielsweise Beethoven oder Mendelssohn üben dabei bis heute eine große Anziehungskraft aus. Viele Musikwirkende wollen einmal ihre eigenen Werke und Dokumente in der Musikabteilung der Staatsbibliothek ‚in guter Gesellschaft‘ verwahrt wissen.

Die Musikabteilung verwahrt rund 500 Nachlässe, Sammlungen und Deposita von Personen und Institutionen der Musikgeschichte bis heute. Einige Bestände sind dabei sehr umfangreich und enthalten die unterschiedlichsten Zeugnisse. Oftmals wurden diese Archivalien von den Hinterbliebenen sorgfältig geordnet und verwahrt und eine Übernahme erfolgt nicht selten in mehreren Etappen. Zahlreiche Nachlässe dokumentieren nicht nur Leben und Schaffen von Musikern, Komponisten und Musikwissenschaftlern, sondern auch die Musik- und Zeitgeschichte Berlins im beginnenden 20. Jahrhundert und haben damit eine übergeordnete Bedeutung erlangt.




Die Nachlässe vermitteln ein überaus lebendiges Bild von ganz unterschiedlichen Musikepochen. Neben den Nachlässen großer, prominenter Persönlichkeiten gesellen sich auch weniger bekannte Namen hinzu.


Der Nachlass von Claudio Abbado

Claudio Abbado wurde 1933 in Mailand geboren und war einer der bekanntesten und berühmtesten Dirigenten seiner Zeit. Er war unter anderem Dirigent bei den Wiener Philharmonikern, an der Mailänder Scala, beim London Symphony Orchestra und von 1989 bis 2002 auch Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Darüber hinaus arbeitete er mit zahlreichen weiteren hochkarätigen Orchestern dieser Welt. Die Berliner Philharmoniker prägte er in seiner Amtszeit als Chefdirigent durch sein Verständnis des kooperativen Musizierens. Er hielt sich in Proben verbal sehr zurück und äußerte kaum Verbesserungswünsche. Stattdessen ließ er die MusikerInnen zuweilen lange Passagen wortlos noch einmal von vorn wiederholen. So wollte er eigenständiges und kammermusikalisches Denken bei den OrchestermusikerInnen fördern. Dieses musikalische Verständnis setzte er auch in der Arbeit mit von ihm gegründeten Orchestern, etwa dem Lucerne Festival Orchestra, dem Gustav Mahler Jugendorchester und dem European Community Youth Orchestra ein.


Claudio Abbado 1987 in Kiel, © bpk
| Ingrid von Kruse

Nach seinem Tod 2014 ging sein Nachlass über die von seinen Nachfahren gegründete Fondazione Claudio Abbado mittels eines Schenkungsvertrags in die Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin über. Er ist dort nun der vierte Nachlass eines Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker, denn neben dem Abbado-Nachlass verwahrt die Staatsbibliothek auch die Nachlässe von Hans von Bülow, Arthur Nickisch und Wilhelm Furtwängler.

Neben einer umfangreichen Notenbibliothek mit etwa 2.000 Bänden enthält Abbados Nachlass ca. 400 Bände musikwissenschaftlicher Fachliteratur, 2.500 Tonträger und etwa 9.000 Briefe. Die 2.000 Bände der Notenbibliothek decken ein breites Spektrum verschiedenster Komponisten und Epochen ab. Besonders oft sind Partituren von Wolfgang Amadeus Mozart (mit 179 Bänden) oder Franz Schubert (mit 90 Bänden) vorhanden, aber auch Werke von Komponisten wie Arnold Schönberg oder Wolfgang Rihm sind mit ungefähr 20 bis 30 Bänden in Abbados Notenbibliothek vertreten.

Partitur der Bühnenmusik zu ,Ein Sommernachtstraum‘ von Felix Mendelssohn-Bartholdy
(55 Nachl 110 B3-09, S. 130-131)

Für angehende DirigentInnen sind die Eintragungen in den Partituren sowie die vorhandenen sogenannten Dirigierzettel von großem Interesse. Hier lassen sich Abbados Herangehensweise und Vorbereitungsarbeit für neue Werke erforschen. Was die teils kryptischen Anmerkungen zu bedeuten haben, mögen wahrscheinlich nur Abbado-Kenner entziffern können.

Eher pragmatischerer Natur sind hingehen die Eintragungen, die Abbado oftmals auf den Titelseiten seiner Partituren hinterlassen hat. Hier notiert er sorgfältig die Orte, Jahre und die Orchester, mit denen er das jeweilige Werk aufgeführt hat.

In einem umfassenden Projekt wurde die gesamte Notenbibliothek katalogisiert und die Werke, die nicht mehr vom Urheberrecht geschützt sind, auch digitalisiert. So wird angehenden DirigentInnen, Forschenden und generell Interessierten auf der ganzen Welt der Zugang und Einblick in Abbados Schaffen ermöglicht.


Abbados Eintragungen zu Aufführungsort und -jahr auf Titelseite der Partitur der 1. Sinfonie von Gustav Mahler
(55 Nachl 110 B2-135)

Der Nachlass der Comedian Harmonists

Die Geschichte der Comedian Harmonists begann mit einer kleinen Zeitungsannonce im Berliner Lokal-Anzeiger vom 29. Dezember 1927, die der musikalische Autodidakt Harry Frommermann aufgegeben hatte. Er war von dem amerikanischen Gesangsquartett The Revelers begeistert, von ihren Jazzklängen und den fein abgestimmten Einzeltimbres und Klangimitationen. Seine Idee war, ihr Klangideal auf ein deutsches Ensemble zu übertragen.

Auf die Zeitungsanzeige hin waren zum Vorsingen über 70 mehr oder weniger begabte Sänger gekommen. Aber nur der Bass-Sänger Robert Biberti entsprach den künstlerischen Vorstellungen Frommermanns. Der selbstbewusste und verhandlungsgeschickte Biberti verstand sich als Leiter der sich formierenden Gesangsgruppe. Sorgfältig archivierte er für den späteren Nachlass alle Materialien – neben Noten waren das vor allem Geschäftsunterlagen.


Gruppenbild der Comedian Harmonists mit Unterschriften, um 1927–1933. Zum Digitalisat

Biberti nutzte seine Kontakte und gewann den samtweichen Tenor Ari Leschnikoff und den wohlklingenden Bariton Roman Cycowski. Später kamen noch der zweite Tenor Erich Collin und der begabte Pianist Erwin Bootz dazu. Als erste ‚Boygroup‘ der Welt waren die Comedian Harmonists international erfolgreich.



Comedian Harmonists: Mein kleiner grüner Kaktus, 1934. Zum Digitalisat

Collin, Frommermann und Cycowski waren jüdischer Abstammung, was der Allgemeinheit gar nicht bekannt gewesen war. Ihnen wurde vonseiten der nationalsozialistischen Machthaber immer mehr Ablehnung entgegengebracht. Es kam zu ersten Absagen vertraglich vereinbarter Konzerte.



Comedian Harmonists: Morgen muss ich fort von hier, um 1935. Zum Digitalisat

Alle sechs Comedian Harmonists hatten einen Aufnahmeantrag in die Reichsmusikkammer gestellt, aber im Februar 1935 wurden nur die ‚arischen‘ Mitglieder Biberti, Bootz und Leschnikoff aufgenommen. Ihnen wurde verboten, weiterhin als Comedian Harmonists gemeinsam mit Juden aufzutreten. Die nichtarischen Mitglieder flohen ins Ausland und das Ende der Gruppe war besiegelt.



Brief zum Berufsverbot der Comedian Harmonists, 22. Februar 1935.
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