Franz Kafka lebte von September 1923 bis März 1924 in Berlin. Nach einem Spaziergang Unter den Linden notiert er am 27. Juli 1914 in sein Tagebuch: „Hier sieht man Menschen die Zeit haben, die des Vergnügens halber da sind.“ Ob er dort auch das neu eröffnete Haus der heutigen Staatsbibliothek zu Berlin besuchte, ist nicht überliefert. Bekannt ist hingegen seine Begeisterung für die Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.

Kafka und die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums

Die 1872 eröffnete Hochschule war eine autonome, von keiner staatlichen oder religiösen Organisation abhängige jüdische akademische Institution. Viele ihrer Studierenden kamen aus Osteuropa und hatten dort jüdische Ausbildungsstätten besucht. Sie hatten um einiges bessere Kenntnisse der hebräischen Sprache und der jüdischen Schriften als Franz Kafka, der aus Interesse an seinem jüdischen Erbe zur Hochschule kam. Sowohl der Lehr- und Forschungsbetrieb als auch der Unterhalt des 1907 errichteten eigenen Gebäudes in der Artilleriestraße 14 (heute: Tucholskystr. 9) wurde allein aus Mitteln von Spendern und Mäzenen finanziert. In der krisengeschüttelten, noch hektischeren Metropole war die Hochschule für Kafka neben seinem Vorortdomizil ein weiterer Zufluchtsort, den er bei gutem Wetter zeitweilig zweimal in der Woche aufsuchte:

Die Hochschule für jüdische Wissenschaft ist für mich ein Friedensort in dem wilden Berlin und in den wilden Gegenden des Innern. […] Ein ganzes Haus, schöne Hörsäle, große Bibliothek, Frieden, gut geheizt, wenig Schüler und alles umsonst. Freilich bin ich kein ordentlicher Hörer bin nur in der Praparandie und dort nur bei einem Lehrer und bei diesem nur wenig, so das sich schließlich alle Pracht wieder fast verflüchtigt, aber wenn ich auch kein Schüler bin, die Schule besteht und ist schön und ist im Grunde gar nicht schön, sondern eher merkwürdig bis zum Grotesken und darüber hinaus bis zum Unfassbar Zarten (nämlich das Liberal-reformerische, das Wissenschaftliche des Ganzen).

An Robert Klopstock, 19. Dezember 1923

Kafka war im Kreis der Hörer eine durchaus auffallende Erscheinung. Der Komponist Josef Tal, Sohn eines an der Hochschule lehrenden Rabbiners, erinnert sich, dass sein Vater diesen besonderen Studenten einmal sogar zum Kaffee nach Hause eingeladen hat. Kafka suchte das Gespräch, gern in hebräischer Sprache, und versorgte sich in der Bibliothek mit hebräischer Lektüre. Von der galoppierenden Teuerung geplagt, war der Besuch der Hochschule für ihn ein willkommenes kostenloses Vergnügen.

Text aus: Hans-Gerd Koch: Kafka in Berlin. 2. Aufl., Berlin 2015, S. 129-130.

Der Geschichte der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und ihrem infolge der Verbrechen des Nationalsozialismus verschollenen Bestand, widmet sich das Projekt Library of Lost Books des Leo Baeck Institute.

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das Gebäude der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums im Jahr 1936.

Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, 1913

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