Werner G. Kießig

Meister der Einbandkunst

Werner G. Kießig, dessen Geburtstag sich am 10. Februar 2024 zum 100. Mal jährt, wurde in sein Metier hineingeboren. Sein Großvater hatte 1893 eine „Globusfabrik und Buchbinderei“ in Berlin gegründet, die der Vater 1918 als industrielle Buchbinderei übernahm. Werner G. Kießig machte seine Lehre bei zwei Meistern der Einbandkunst: Er lernte in der Schöneberger Buchbinderei bei Kurt Grünewald und erhielt seine theoretische Ausbildung bei Bruno Scheer. Nach dem Krieg, die Buchbinderei war zerstört worden und musste neu aufgebaut werden, besuchte er die Grafische Fachschule, erhielt 1947 seine Gewerbegenehmigung und legte 1948 die Meisterprüfung ab. Es ist ein geradliniger Lebensweg, der sich in der DDR und auch nach 1990 fortsetzen sollte: 1956 wurde er als „Kunstschaffender im Handwerk“ anerkannt, arbeitete als freier Mitarbeiter für die Staatlichen Museen zu Berlin und die Deutsche Akademie der Wissenschaften, besuchte Lehrveranstaltungen zur Einbandgeschichte bei der bedeutenden Einbandforscherin Ilse Schunke und schloss ein künstlerisches Grundlagenstudium an der Kunsthochschule Berlin ab.


  • 10. Februar 1924: geboren in Berlin
  • 1939 bis 1942: Buchbinderlehre mit Gesellenprüfung
  • 1940 bis 1947: Studium an der Grafischen Fachschule Berlin mit Unterbrechung
  • 1942 bis 1945: Wehrdienst und US-Gefangenschaft
  • 1945 bis 1946: Tätigkeit als Zeichner in einem Baubetrieb
  • 1948: Meisterprüfung im Buchbinderhandwerk
  • 1956: Staatliche Anerkennung als „Kunstschaffender im Handwerk“ in der DDR
  • 1956 bis 1965: Freier Mitarbeiter als Buch- und Papyrusrestaurator an den Staatlichen Museen zu Berlin und der Deutschen Akademie der Wissenschaften
  • 1961: Gutachtertätigkeit am Koptischen Museum, Kairo
  • 1963 bis 1970: Vorsitzender der Meisterprüfungskommission für das Buchbinderhandwerk in Berlin
  • 1965: Gründung einer Galerie in Berlin mit ständiger Verkaufsausstellung
  • 1965: Erhalt der Ehrenurkunde der Handwerkskammer Berlin in der DDR
  • 1965 bis 1979: Vorsitzender der Fachgruppe Buchbinder bei der Handwerkskammer Berlin in der DDR
  • 1966 bis 1967: Grundstudium an der Kunsthochschule Berlin
  • Ab 1967: Mitglied im Verband Bildender Künstler Deutschlands und in der Internationalen Vereinigung Meister der Einbandkunst (MDE)
  • 1967: Ehrung mit der Silbernen Ehrennadel der Handwerkskammer Berlin
  • 1968 bis 1985: Gründer und Leiter der Fachgruppe „Anerkannte Kunsthandwerker“ bei der HdB Berlin
  • 1969: Erhalt der Ehrenurkunde auf der vierten Ausstellung des Kunsthandwerks der DDR im Bereich Papier
  • 1969: Erhalt des Ehrenpreis des Verbandes der deutschen Lederindustrie
  • Ab 1971: Mitglied der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der Grafik-, Archiv- und Buchrestauratoren (IADA)
  • 1973: Erhalt der Goldenen Ehrennadel der Handwerkskammer Berlin in der DDR
  • 1974: Erhalt der Verdienstmedaille der DDR
  • Ab 1974: Sachverständiger für das Buchbinderhandwerk, Mitglied der Sektionsleitung Kunsthandwerk/ Formgestaltung des Verbandes Bildender Künstler, Mitglied des „Rates für Kunsthandwerk“ beim Ministerium für Kultur, Mitglied des Arbeitskreises Kunsthandwerk beim Magistrat von Berlin
  • 1977: Ehrentitel „Ehrenobermeister des Handwerks“
  • 1978: Erhalt des Ehrendiploms der internationalen Jury der zweiten Quadriennale des Kunsthandwerks
  • Ab 1981: Mitglied der Designer Bookbinders London
  • 1982: Präsidiumsmitglied der Internationalen Vereinigung Meister der Einbandkunst
  • 1985: Aufgabe des Buchbindereibetriebes und Tätigkeit als freischaffender Buchbinder
  • Ab 1990: Mitglied im Bundesverband Bildender Künstler
  • 1991: Schatzmeister der Internationalen Vereinigung Meister der Einbandkunst
  • 1992: Stellvertretender Vorsitzender des Kunstvereins „Triade“
  • 1994: Ernennung zum Ehrenmitglied des Kunstvereins „Triade“
  • 1997: Ernennung zum Ehrenmitglied des Berufsverbandes Bildender Künstler Berlins e.V.
  • 1999: Erhalt der Goldenen Ehrennadel des Bundes Deutscher Buchbinder e.V.
  • 2000: Erhalt der Goldenen Ehrennadel des Vereins Berliner Buchbindermeister 1849 e.V.
  • 2007: Ernennung zum Ehrenmitglied der Internationalen Vereinigung Meister der Einbandkunst
  • 27. März 2014: gestorben in Berlin

Kunst und Handwerk

Werner G. Kießig hatte den industriell ausgerichteten Teil der Buchbinderei verpachtet und konzentrierte sich auf Einzel- und Sonderanfertigungen. 1967 wurde er in den Verband Bildender Künstler aufgenommen und Mitglied der Internationalen Vereinigung Meister der Einbandkunst. Zuvor war er zum Mitglied der Designer Bookbinders London geworden. Sein internationales Wirken erweiterte den künstlerischen Blick und gab oft genug Anlass, neue Techniken und Formen zu erproben. Andererseits führte der Mangel an geeigneten Einbandmaterialien und Werkzeugen in der DDR auch dazu, dass sich die Improvisationskunst bei Werner G. Kießig zu einem wesentlichen Bestandteil von Kunst und Handwerk entwickelte. Sein bevorzugtes Material blieb dabei immer das Leder. Er beherrschte die Präge- und Intarsientechniken meisterhaft; auch das Papier geriet als Einbandmaterial immer wieder in seinen Fokus.

Fotografische Abbildung des Künstlers Werner G. Kießig in seiner Werkstatt

Der Künstler Werner G. Kießig in seiner Werkstatt. Foto: Ute Krause


„Der Poet“

Die von Werner G. Kießig erschaffenen Formen stehen in enger Beziehung zur literarischen Vorlage, die zum Ausgangspunkt der Gestaltung wird. Handwerk und künstlerische Interpretation verbinden sich dabei zu einem Gesamtkunstwerk. Dem Leser oder Betrachter bleibt es überlassen, die Zusammenhänge zwischen Text und Einband in all ihren Nuancen selbst zu entdecken.



Die Sammlung Kießig in der Staatsbibliothek zu Berlin

Im Jahr 2015 schenkte die Witwe Werner G. Kießigs, Christine Kießig, der Berliner Staatsbibliothek etwa 250 künstlerische Bucheinbände aus der Werkstatt ihres Mannes. Diese wurden mit einer breiten Vielfalt an Materialien und Techniken, zumeist für Wettbewerbe, geschaffen und waren nicht verkauft worden, sondern im Besitz Kießigs verblieben.

Zusätzlich zu den Bucheinbänden wurden weitere künstlerische Objekte übernommen, darunter vor allem Lederarbeiten für Innenräume. Einen Einblick in Kießigs künstlerischen Schaffensprozess bieten außerdem zahlreiche Prägeplatten, eine Fotodokumentation und Dias. Besondere Bedeutung erlangen in diesem Zusammenhang die Mappen mit Entwürfen zu seinen Werken, die durch eine Sammlung an Materialprobearbeiten für Einbände ergänzt werden. Dabei handelt es sich überwiegend um fertiggestellte Decken ohne Buchblock.

Einbände von Werner G. Kießigs wurden in zahlreichen Ausstellungen im In-und Ausland präsentiert.

Personalausstellungen

  • 1965: Bühnen- und Filmclub „Möwe“, Berlin
  • 1975: Bezirksverband Berlin des Verbandes Bildender Künstler
  • 1984: Handeinbände Werner G. Kießig, Deutsche Staatsbibliothek Berlin
  • 1989: Galerie 100, Berlin
  • 1991: Künstlerische Handeinbände Werner G. Kießig, Schloss Friedrichsfelde Berlin (Staatspreis des Landes Berlin)
  • 1999: Clubgalerie des Tennisclubs Schwarz-Gold Berlin
  • 2004: Galerie 100, Berlin

Beteiligungen an Ausstellungen

  • 1967, 1972, 1977, 1982 , 1988: Teilnahme an der Kunstausstellung der DDR in Dresden
  • 1968: „Der künstlerische Bucheinband der Gegenwart“, Leipzig Grassi-Museum
  • 1973, 1976, 1979, 1982: Bezirksausstellungen der Berliner Formgestalter und Kunsthandwerker
  • 1974, 1978: Quadriennale des Kunsthandwerks sozialistischer Länder, Erfurt
  • 1978: Museum of Modern Art, San Francisco (USA)
  • 1978: Centro del bel libro, Ascona
  • 1978: „Exempla“ Kunsthandwerk, München
  • 1978: III. Triennale umelecke knizny vazby, Karlovy Vary
  • 1978: Berliner Kunsthandwerk, Mexico-City (Mexiko)
  • 1989: Internationale Buchkunstausstellung „iba”, Leipzig
  • 1990: „Einbände der Nationalepen”, Tallin (Estland)
  • 1990: Preis des estnischen Künstlerverbandes
  • 1990: 1. Berliner Kunstmesse, Ausstellungszentrum am Fernsehturm
  • 1991: Ambiente – „plus 5“, Frankfurt/Main
  • 1991 bis 1992: Wanderausstellung der Internationalen Vereinigung Meister der Einbandkunst, Canada, USA
  • 1993: Umelecka knizni vazba, Trebic (Tschechien)
  • 1993: Internationale Einbandausstellung, Kopenhagen (Dänemark)
  • 1993 : Internationale Buchausstellung, Frankfurt/Main
  • 1993 : 2éme Biennale de la Réliure Europeene en Pays Basque à Ciboure (Frankreich)
  • 1994: 4. Internationales Forum des Kunsteinbandes, Luxemburg
  • 1995: Kriterien der Handeinbandgestaltung am Beispiel der ausgestellten eigenen Arbeiten, Symposium Max Josef Husung, Helmstedt
  • 1999: Rilegatura d’Arte/ Ara Italia, Venedig (Italien)
  • 2001: 6. Biennale mondiale de la Reliure d’Art en Pays Basque (Frankreich)
  • 2001: Ausstellung der Internationalen Vereinigung Meister der Einbandkunst, Köln

Übersicht der Einbände


Die Bildergalerie zeigt die Auswahl der im Folgenden erläuterten Einbände von Werner G. Kießig. Die Beiträge folgen einer chronologischen Struktur nach Entstehungszeit und geben einen Einblick in die künstlerische und handwerkliche Entwicklung der Arbeiten von Werner G. Kießig. Über die Menüleiste gelangen Sie direkt zu den einzelnen Einbänden.

Ganzlederband von Werner G. Kießig aus dem Jahr 1956

Theaterbühnenbilder


Einband zum Werk:
Raymond Cogniat: Décors de théâtre, Paris: Éd. Des Chroniques Du Jour, 1930, Nummeriertes Exemplar Nr. 347.

Bühnenbild und Theater stehen im Vordergrund der literarischen Vorlage dieses Bandes von Raymond Cogniat (1896–1977), ein französischer Kunstkritiker und Experte für Bühnendesign, und werden von Werner G. Kießig auch bei der Gestaltung des Einbandes aufgegriffen. Mit roter und hellgrauer Lederauflage und handvergoldeten Linienprägungen schafft Kießig eine raumgreifende, architektonische Form.

In seinen Arbeiten strebte Kießig eine den Vorderdeckel, den Rücken und den Rückendeckel übergreifende Gestaltung an. Die industriell gefertigten Einbände des 19. Jahrhunderts hatten die optische Trennung von Buchrücken und -deckeln, wie sie bei traditionellen Handeinbänden üblich war, übernommen. Kießig hingegen hatte eine einheitliche, harmonische Gestaltung im Blick und setzte durch die schräge Linienführung einen modernen Akzent.

Dieser frühe Einband, der bereits auf einer Höhe mit den besten Arbeiten der europäischen Einbandkunst seiner Zeit steht, wurde für den Maler und Illustrator Professor Max Schwimmer gebunden. Max Schwimmer begleitete und förderte Kießigs Arbeit. Er gehörte neben Werner Klemke zu jenen Künstlern, mit denen Kießig während seines künstlerischen Grundlagenstudiums an der Kunsthochschule Berlin eine konsultative Zusammenarbeit verband.




Ansicht des Vorderdeckels des Einbandes

Vorderdeckel.  Einband aus der Einbandsammlung Werner G. Kießig, Signatur: 4° 30 ZZ 127. Foto: SBB-PK / Hagen Immel. CC BY-NC-SA 4.0


Aus der Werkstatt: Vergoldung

Zur Verzierung von Einbänden werden unterschiedliche Vergoldetechniken eingesetzt. Dabei wird echtes oder unechtes Blattgold mit erhitzten Werkzeugen auf das Bezugsmaterial des Einbandes übertragen. Unterschieden wird zum Beispiel zwischen per Hand mit Einzelstempel aufgetragenem Blattmettal (Handvergoldung) oder der Vergoldung mit Platten (Pressvergoldung). Als Werkzeug kann im Verarbeitungsprozess ebenfalls der Glättkolben zum Einsatz kommen. Das Leder wird mit diesem – leicht erwärmten – Werkzeug vor der Goldverzierung geglättet und von Unebenheiten befreit.

Ansicht des Vorder- und Rückendeckel des Bandes

Gesamtansicht Vorder- und Rückendeckel des dunkelblauen Ganzlederbands mit roter und hellgrauer Lederauflage, Blinddruck, Handvergoldung, Stehkantenvergoldung und Kopfgoldschnitt. Einband aus der Einbandsammlung Werner G. Kießig, Signatur: 4° 30 ZZ 127. Foto: SBB-PK / Hagen Immel. CC BY-NC-SA 4.0


Zwei Detailansichten des Vorderdeckels: Intarsienarbeit der Baumkrone und Verarbeitung von Metallspänen und Handvergoldung in den Blumen. Einband aus der Einbandsammlung Werner G. Kießig, Signatur: 30 ZZ 51. Foto: SBB-PK / Hagen Immel. CC BY-NC-SA 4.0


Ganzlederband von Werner G. Kießig aus dem Jahr 1975

Der Lustgarten


Einband zum Werk:
Der Lustgarten, angelegt von Günther Cwojdrak, Illustrationen von Renate Totzke-Israel, Berlin: Eulenspiegel-Verlag, 1975.

Der in der DDR tätige Publizist Günther Cwojdrak war bekannt für seine originellen Textsammlungen, zu denen auch diese Anthologie von erotisch-satirischen Texten zählte. Der mehrfach aufgelegte „Lustgarten“ blieb tatsächlich nicht nur einmal die Inspirationsquelle für Werner G. Kießig.

Auf der Basis braunen Kalbleders lässt Kießig einen Garten mit Baum und Blumen entstehen. Als Intarsien aus Glatt- und Rauhleder in unterschiedlichen Braun- und Grüntönen wird die Baumkrone sichtbar. Die Blumen – zum Teil blindgeprägt, zum Teil in Golddruck – neigen sich diesem im Zentrum des Gartens zu. Ihre Leuchtkraft wird durch die Verarbeitung von Metallspänen in den Blüten unterstrichen und erhält dadurch eine räumliche Tiefe. Die Metallspäne erhielt Kießig von einem befreundeten Metallrestaurator. Die Farbwahl spiegelt sich auch im oberen goldenen Buchschnitt wieder. Die Kombination unterschiedlicher Materialien und Techniken wurde zu einem wesentlichen Merkmal der Einbände Kießigs.




Ansicht des Vorderdeckels des Einbandes

Eine spätere Interpretation Kießigs zum Werk Der Lustgarten in der 4. Auflage von 1981 ist ein Ganzlederband aus rotem Ziegenleder mit Reliefarbeit, Glättkolbenvergoldung und Blinddruck mit Bogenliniensatz, angefertigt 1983. Einband aus der Einbandsammlung Werner G. Kießig, Signatur: 30 ZZ 5. Foto: SBB-PK / Hagen Immel. CC BY-NC-SA 4.0. Zum Digitalisat

Aus der Werkstatt: Intarsie

Die Verzierungstechnik der Lederintarsie fand im 19. Jahrhundert große Verbreitung beim Bucheinband. Es handelt sich um eine aufwendige Einlegearbeit, bei der unterschiedliche Leder zu einem Muster oder Motiv zusammengesetzt werden. Anders als bei der Lederauflage erfolgt diese Einlegearbeit noch bevor die Buchdeckel mit Leder überzogen werden. Die Lederstücke werden also in die Ausschnitte des Überzugsleders auf einem Trägerpapier eingefügt. Die Intarsienarbeit zeichnet sich dadurch aus, dass die Schnittflächen nicht sichtbar und keine Unterschiede in der Dicke der Lederstücke erkennbar sind.

Ansicht des Vorder- und Rückendeckel des Bandes

Gesamtansicht Vorder- und Rückendeckel des Ganzlederbands aus Kalbsleder mit Kopfgoldschnitt, Intarsien in Glatt- und Rauhleder in Braun- und Grüntönen, Blind- und Golddruck und Auflagen von Metallspänen. Einband aus der Einbandsammlung Werner G. Kießig, Signatur: 30 ZZ 51. Foto: SBB-PK / Hagen Immel. CC BY-NC-SA 4.0

Ganzfranzband von Werner G. Kießig aus dem Jahr 1975

Der junge Honoré Daumier


Einband zum Werk:
Wolfgang Balzer: Der junge Daumier und seine Kampfgefährten. Politische Karikatur in Frankreich 1830 bis 1835, Dresden: Verlag der Kunst, 1965.

Im Vordergrund des Werkes des Kunsthistorikers Wolfgang Balzer steht der französische Lithograf Honoré Daumier (1808–1879). Im Paris des frühen 19. Jahrhunderts war er als Karikaturist tätig und fertigte Illustrationen zu politischen und gesellschaftlichen Ereignissen für Zeitschriften an. Die politische Karikatur prägte daher den Beginn seines Schaffens. Unter Verwendung der neuen, in Deutschland entstandenen Drucktechnik der Lithografie (Steindruckverfahren), zeichnete sich Daumiers Kunst durch starke Kontraste und die Betonung der Umrisslinie aus.

Werner G. Kießigs abstrakte Gestaltung erscheint somit auf den ersten Blick als Gegensatz zum Realismus des Künstlers Honoré Daumier. Kießigs Ledereinlagen in rot und weiß beziehen sich auf die Formgebung Daumiers und den Druckprozess. Im Zusammenspiel mit dem Blau des Einbandes entstehen die Farben der französischen Trikolore. Eine feine, handvergoldete Linie verstärkt den Eindruck einer Spiegelung. Die Farbgebung findet sich als Gesamtkunstwerk im dazugehörigen Schuber mit roter Ledereinfassung wieder.


Der Einband und der dazugehörige Schuber mit Ledereinfassung. Einband aus der Einbandsammlung Werner G. Kießig, Signatur: 2° 30 ZZ 117. Foto: SBB-PK / Hagen Immel. CC BY-NC-SA 4.0


Auf die Frage, welcher der von ihm gefertigten Bucheinbände für ihn repräsentativ sei und seinen Ansatz im Umgang mit dem Bucheinband in besonderer Weise verkörpere, hatte Werner G. Kießig neben zwei anderen Arbeiten auch diesen Band zu Daumier hervorgehoben.



Aus der Werkstatt: Franzband

Schematische Ansicht von Buchschnitt und Falz, 19. Jh.

Abbildung A zeigt einen flachen Falz, Abbildung B einen tiefen Falz. Paul Adam: Systematisches Lehr- und Handbuch der Buchbinderei. Dresden 1882, Bd. 1, S. 162.

Als Bezugsmaterialien für Einbände können Leder, Pergament, Papier oder auch Gewebe (d.h. Textil) verwendet werden. Der Franzband ist eine besondere Art der Ledereinbände. Diese sehr anspruchsvolle Technik stammt ursprünglich aus Frankreich und kommt häufig in der Einbandkunst zum Einsatz, da sie dem Einband eine hochwertige, glatte Optik ohne Falzrille zwischen Buchdeckel und -rücken verleiht. Charakteristisch für den Franzband ist der „tiefe Falz“. Dabei wird der Buchblock mit den Papierlagen am Übergang zum Buchrücken „abgepresst“, sodass ein rechter Winkel entsteht, in den der Buchdeckel eng angesetzt werden kann. Von außen ist damit keine Vertiefung zwischen Buchrücken und -deckel erkennbar.

Ansicht des Vorder- und Rückendeckel des Bandes

Gesamtansicht Vorder- und Rückendeckel des dunkelblauen Ganzfranzbands mit Ledereinlage hellrot und weiß, Handvergoldung und Kopfgoldschnitt. Einband aus der Einbandsammlung Werner G. Kießig, Signatur: 2° 30 ZZ 117. Foto: SBB-PK / Hagen Immel. CC BY-NC-SA 4.0

Vorderansicht des Bandes mit Schuber

Einband mit Schuber. Einband aus der Einbandsammlung Werner G. Kießig, Signatur: 4° 30 ZZ 128. Foto: SBB-PK / Hagen Immel. CC BY-NC-SA 4.0


Ganzgewebeband von Werner G. Kießig aus dem Jahr 1978

Aufenthalt auf Erden


Einband zum Werk:
Pablo Neruda: Aufenthalt auf Erden. Mit 18 Farbholzschnitten von HAP Grieshaber, Leipzig: Reclam Verlag, 1973.

Der chilenische Dichter Pablo Neruda (1904–1973) zählt zu den wichtigsten Schriftstellern Lateinamerikas des 20. Jahrhunderts und wurde 1971 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. Diese Ausgabe mit 69 Gedichten aus dem Zeitraum 1931 bis 1947 wurde mit großformatigen, abstrahierenden Farbholzschnitten von dem Grafiker und bildenden Künstler HAP Grieshaber illustriert. Werner G. Kießig fertigte mehrere Einbände für Nerudas Gedichte.

Dieser Gewebeeinband in Fotoleinen greift – wie auch ein weiterer Einband Kießigs zu Neruda – das Thema Natur auf. Während der Entwurf aus dem Jahr 1983 einen Holzschnitt von HAP Grieshaber für einen Ledereinband verwendet, liefert hier das Foto einen persönlichen Einblick, zeigt es doch den Baum aus dem Garten von Kießig selbst. Im Kontrast zur die Struktur hervorhebenden schwarz-weiß Gestaltung des Einbandes stehen der blaue Buchschnitt und die Vorsatzpapiere sowie der rote Leinenschuber. Unter Verwendung von roter Farbfolie wurde der Titel auf den Buchrücken im Handdruck aufgebracht. Hier wird eine weitere Charakteristik der Herangehensweise von Kießig sichtbar: Es ist die Variation, das immer wieder freie Spiel über ein mit der literarischen Vorlage gegebenes Thema, welches im Zentrum seiner Entwürfe steht.




Ansicht des blau gefärbten, oberen Buchschnitts

Kopffarbschnitt des Einbandes in Blau. Einband aus der Einbandsammlung Werner G. Kießig, Signatur: 4° 30 ZZ 128. Foto: SBB-PK / Hagen Immel. CC BY-NC-SA 4.0

Aus der Werkstatt: Buchschnitt

Der farbige oder vergoldete Buchschnitt trägt neben seiner Schutzfunktion vor Feuchtigkeit und Verschmutzung auch zur ästhetischen Gestaltung von Bucheinbänden bei. Der handwerkliche Prozess beginnt mit dem präzisen Schneiden und Vorbereiten der Buchseiten. Nach dem Einspannen des Buchblocks in einen Pressenrahmen kann die Verzierung der Schnittfläche (Buchschnitt) durch Farbauftrag oder Einfärben erreicht werden. Manuell kann das mit einem Pinsel oder Schwamm erfolgen. Hierbei sind der Kopffarbschnitt, bei dem die oberen Seiten farblich gestaltet werden, und der Goldschnitt, bei dem die Seiten mit Goldfolie veredelt werden, besonders hervorzuheben. Die Herausforderung besteht darin, zu verhindern, dass sich die Farbe ablöst oder die Seiten miteinander verklebt. Werden alle drei Seiten des Buchblocks auf diese Weise bearbeitet, spricht man von einem Ganzgold- oder von einem Ganzfarbschnitt.

Ansicht des Vorder- und Rückendeckel des Bandes

Gesamtansicht Vorder- und Rückendeckel des Ganzgewebebands in Fotoleinen und blauem Kopffarbschnitt, Rückentitel unter Verwendung von roter Farbfolie in Handruck. Einband aus der Einbandsammlung Werner G. Kießig, Signatur: 4° 30 ZZ 128. Foto: SBB-PK / Hagen Immel. CC BY-NC-SA 4.0

Ganzlederband von Werner G. Kießig aus dem Jahr 2006

Pilze


Einband zum Werk:
Ladislav R. Hanka: Mushrooms, ohne Ort, 2006. Exemplar 4/25 der englischen Ausgabe.

Der Pressendruck des amerikanisch-tschechischen Buchkünstlers Ladislav R. Hanka wurde in einer tschechischen und einer englischen Ausgabe gedruckt. Im Vordergrund des Werkes stehen künstlerische Druckgrafiken von Pilzen.

Für den Einband zum Werk wählte Werner G. Kießig eine Kombination verschiedener Materialien und Techniken, um das organische Wachstum von Pilzgeflechten anzudeuten, das sich überwiegend im Dunkeln ereignet. Gegensätzliche Ebenen wie oben und unten, hell und dunkel, werden auch bei der Gestaltung des Einbandes angedeutet. In Blindprägungen im Kalbleder von eigens hergestellten geätzten Platten wird das unterirdische Wurzelgeflecht des Waldes sichtbar gemacht. Neben der „blinden“ Prägung ohne Einsatz von Gold oder Farbe wird das Motiv einer für das menschliche Auge nur bedingt sichtbaren Natur ergänzt durch eine Kombination aus verschiedenfarbigen Lederauflagen sowie Farb- und Goldprägungen. Die Blindprägungen des Einbandes finden sich außerdem auf der Ganzleinenkassette wieder.



Blindprägung und Farbauftrag des Vorderdeckels im Detail

Detailansichten des Vorderdeckels: Blind- und Farbprägung. Einband aus der Einbandsammlung Werner G. Kießig, Signatur: gr. 2° 30 ZZ 135. Foto: SBB-PK / Hagen Immel. CC BY-NC-SA 4.0


Aus der Werkstatt: Prägung

Ein Motiv oder Text kann durch Prägen auf das Einbandmaterial übertragen werden, wobei das Einbandmaterial verformt wird und rückseitig Vertiefungen entstehen. Die Blindprägung ist eine besondere Verzierungstechnik, die bereits in der Frühen Neuzeit beliebt war. „Blind“ bedeutet dabei ohne Einsatz von Farbe. Die Verzierung durch Prägung ist darüber hinaus auch mit Farbübertragung möglich, wobei neben Farbe auch Gold verwendet werden kann. Im Unterschied zur Blindprägung führt der Blinddruck zu keiner Verformung des Materials.


Gesamtansicht Vorder- und Rückendeckel des Ganzlederbands aus Naturkalbleder auf tiefer Falz, Blindprägung auf beiden Deckeln und Rücken von geätzten Platten, Lederauflagen, Farb- und Goldprägung, Rückentitel farbig, sowie Ansicht mit Ganzleinenkassette mit Blindprägung der auch für den Einband verwendeten Platten. Einband aus der Einbandsammlung Werner G. Kießig, Signatur: gr. 2° 30 ZZ 135. Foto: SBB-PK / Hagen Immel. CC BY-NC-SA 4.0